2011

Schwarze Quadrate

Marcel Kasimirowitsch, Sohn einer Französin und eines russischen Pelzhändlers, wuchs in Düsseldorf und Leiden auf und ging 1921, exakt so alt wie sein Jahrhundert, nach Japan, wo er in Yokohama eine Niederlassung der väterlichen Unternehmung leiten sollte. K.’s Leidenschaft galt jedoch der Kochkunst, was, wie er selbst stets betonte, auf seine Mutter zurückging. Die Berührung mit der damals in Europa weitgehend unbekannten japanischen Küche löste in ihm einen wahren Schaffensrausch aus; seine merkantilen Aufgaben vernachlässigte er indes schon sehr bald. 1923 eröffnete K. in Yokohama sein erstes kleines Speiselokal, das Champs Elysées, das schnell der beliebteste Treffpunkt der internationalen Community der Hafenstadt wurde. Er kreierte Gerichte, die die Grenzen der europäischen Tradition hinter sich ließen, indem sie den Purismus japanischer Speisephilosophie zu ihrem Leitbild machten. Manches morgendliche Experiment ließ er schon abends seine Gäste probieren – und das kam an. Sein Markenzeichen wurde die Erfindung von Fischsoßen, die nach seiner Vorstellung den Geschmack des Meeres einfangen sollten.

Eines Tages vergaß er eine Pfanne mit einer solchen Soße, während er sie auf kleiner Flamme reduzierte. Als K. die Pfanne wieder einfiel, hatte sich eine mitteldicke, schwarze Kruste vom Boden gelöst. K. probierte und war von dem Ergebnis überrascht; das verbrannte Meer - dachte er amüsiert und schnitt den Bodensatz in kleine Quadrate. Auch diese Kekse fanden großen Anklang, und so begann er mit der Produktion großer Mengen jener Fischsoße, die er zu dem neuartigen Gebäck zu verarbeiten gedachte.

Da ereilte am 1. September 1923 das große Kantô-Erdbeben seine Stadt und die gesamte Region. Das Champs Elysées und seine Küche waren verloren und die tagelang wütenden, verheerenden Feuer verbrannten jede Erinnerung an diesen, für kurze Zeit so genussreichen und fröhlichen Ort. Einzig die gigantischen Kupferkessel mit der Fischsoße standen wie zuvor dort, wo einst der Hof des Restaurants gewesen war. K. erkannte, dass dies nun sein einziges Kapital war und begann mit der Reduktion auf den endlos schwelenden Trümmern seiner Existenz. Er gewann 1024 kg schwarze, quadratische Kekse, die seine Zukunft werden sollten.

Mit seiner japanischen Frau begab er sich wenige Tage später auf die beschwerliche Reise nach Kanazawa, wo ihre Familie lebte. Ein Pferdewagen transportierte seinen in 16 Fässern verstauten Schatz. Während der Überquerung der japanischen Alpen kam es zu einem seltsamen Zwischenfall; während das Ehepaar in einem Onsen-Ryokan bei Nagano übernachtete, stahl eine Gruppe Makaken fast die Hälfte der kostbaren Fracht. Am Morgen folgte K. ihren Spuren und erlitt einen Nervenzusammenbruch als er sah, was die Waldbewohner mit seiner Kreation machten. Offensichtlich waren die schwarzen Quadrate nicht nach ihrem Geschmack und so warfen sie das Gebäck in die heißen Quellen. Die schwarzen Quadrate quollen auf, wurden wieder zu Fischsoße und aus den Becken ergoss sich eine dickflüssige, braune Masse blubbernd ins Tal. Bis heute wurden die Bäder nie wieder benutzt, denn auf den Soßenschwall folgte ein übel riechender, gegen jeden Reinigungsversuch resistenter Schimmelpilzbefall, dessen Spuren dort noch heute auf einer Fläche von ca. 7 ha nachzuweisen sind. K. sollte nie davon erfahren.

Er erholte sich rasch und eröffnete in Kanazawa zunächst ein kleines Geschäft, wo er seine immer beliebter werdenden, eigenartigen Kekse verkaufte, und so wurde es bald schon ein kleines Cafe. Er nannte es nach seinem Gebäck Kuro no seihôke (schwarzes Quadrat). Durch dessen anhaltenden Erfolg konnte er seinen Traum verwirklichen – die Gründung eines neuen Restaurants. Er eröffnete es 1926 in Kôbe und nannte es Shiroi Seirokumentai (weißer Würfel), seiner schlichten, geometrischen Architektur wegen. Über K.’s Tod im Jahre 1983 hinaus existierte das Shiroi Seirokumentai bis zum großen Beben von Kôbe 1995. 1979 wurde Marcel Kasimirowitsch, inswischen längst japanischer Staatsbürger, zum Nationalen Kulturgut ( jûyô bunkazai ) erklärt.

Christoph Platz 2011

* Dieser Text war ursprünglich für den Katalog der Ausstellung „wortgewand“ entstanden, konnte aber wegen seiner Länge nicht aufgenommen werden.

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