2014

Vormärz

Christoph Platz, 2014©

Wir wollen einmal träumen; einen Tagtraum. Ich glaube, es war der Philosoph Ernst Bloch, der diese Art des Traumes als in die Zukunft gerichteten Traum mit dem Haschischrausch verglich (im Gegensatz zum Opiumrausch als regressivem Nachttraum).

Wir stellen uns also vor, wir hätten etwas Haschisch geraucht, was bekanntlich ja auch sehr lustig sein kann; besonders wenn es in Gesellschaft geschieht. Wir träumen also gemeinsam einen bekannten Traum: den Traum einer Erneuerung. Wir sind unter Freunden.

Was wollen wir erneuern? Alles! Einer hat die zündende Idee, und wir erinnern uns alle an einen Mythos – jeder kennt ihn (sonst wäre es ja kein Mythos...), den Mythos der Erneuerung, dessen wir in unzähligen Veranstaltungen gedenken: DADA !!! Ja, das war doch was, echt!, das saß! Wir sind uns alle einig, dass der erste Weltkrieg absolut beschissen war, und wir wissen – da beißt die Maus kein’ Faden ab - , dass wir, genau wie Tristan Tzara, wie Richard Huelsenbeck, wie Hugo Ball und Emmy Hennings, wie Raoul Hausmann, Kurt Schwitters, Hans Arp, wie Marcel Duchamp und Francis Picabia und all die anderen, in einer solchen Situation zum absolut Äußersten greifen würden, ohne wenn und aber, dass uns gar nichts anderes übrig bliebe, als die Umwertung aller Werte überhaupt. Sowieso, genau, Hurra!

Der Historismus war mit der Wilhelminischen Welt zerstört worden; er war keinen Cent mehr wert, taugte nicht für die notwendige Neugestaltung des Lebens, das weiß jeder. Der Wahnsinn des Krieges - der musste beantwortet werden; mit Revolution, nicht nur durchs Proletariat - mit Arbeiter- und Soldatenräten - nein, auch durchs Bürgertum... mit: DADA!.

Die Künstler des Fin de Siècle, die Makarts, die Demels, die Wagners, diese Verklärer und Visionisten, diese Handwerkergeisteshelden - sie wurden hinweggewischt mit einem ulkig vorgetragenen Lautgedicht, mit einem absurden Ballett, mit einer Kollage aus Fundstücken des Alltags, aufgehoben aus dem Schmutz der Straße. Wir rezitieren gemeinsam in unserer Runde feierlich die uns so wohl bekannten Verse Richard Huelsenbecks, die DADA-Schalmei, und lachen uns kaputt!:

Auf der Flöte groß und bieder
Spielt der Dadaiste wieder,
da am Fluß die Grille zirpt
Und der Mond die Nacht umwirbt,
Tandaradei.

Ach, die Seele ist so trocken
Und der Kopf ist ganz verwirrt,
Oben, wo die Wolken hocken,
Grausiges Gevögel schwirrt,
Tandaradei.

Ja, ich spiele ein Adagio
Für die Braut, die nun schon tot ist,
Nenn es Wehmut, nenn es Quatsch,- O
Mensch, du irrst so lang du Brot ißt,
Tandaradei.

In die Geisterwelt entschwebt sie,
Nähernd sich der Morgenröte,
An den großen Gletschern klebt sie
Wie ein Reim vom alten Goethe.
Tandaradei.

Dadaistisch sei dies Liedlein,
Das ich Euch zum besten gebe,
Auf zwei Flügeln wie ein Flieglein
Steig es langsam in die Schwebe.
Tandaradei.

Denk an Tzara, denk an Arpen
An den großen Huelsenbeck!

Mancher kann sich vor Lachen gar nicht mehr halten, Tränen haben wir in den Augen, denn es ist unsere tiefste Überzeugung, dass hier etwas gesagt wurde, das nicht nur komisch sondern auch wahr ist; es ist wahr, nicht so sehr als das Gesagte – das ist das Komische - sondern als das Ausgedrückte, das ist die Wahrheit. Na ja, was soll das schon heißen? Ich weiß, Haschischraucher verlieren manchmal die Fähigkeit zur verständigen Mitteilung... . natürlich ist der Kontext gemeint. Wir sind so unerhört köstlich amüsiert, weil wir wissen, dass diese Wahrheit, die wir alle kennen, sich in einem bestimmten Kontext ereignet, den wir ebenfalls kennen, und wir brauchen jetzt gerade auch niemanden, der uns dazu einen Text schreiben wollte.

Dann aber sagt einer: “Warum lachen wir eigentlich? Warum lachst Du?“ Und das Gibbeln verebbt; langsam. „Was klebt eigentlich am Gletscher wie ein Reim vom alten Goethe?“, wird gefragt. Ja, schließlich ist das nun bald einhundert Jahre her. Ist der Gletscher noch da? Ist er etwa etwas abgeschmolzen – und: wohin ist die DADA-Schalmei?

Wir sind berauscht; und es gibt keinen Schlaumeier, der sagen würde, die DADA-Schalmei lebe fort in der Pop-Art, erklänge noch heut’ in der Appropriation Art, oder so. Oder doch, ja, einer spricht dieses äußerst komische Wort tatsächlich aus: „Appropriation Art“... Schweigen... und dann: „Karaoke!“ Wir lachen uns schlapp! ... wir können nichts dagegen tun; und kaum haben wir uns wieder beruhigt, folgt das schwere, das böse Wort: „Weltwirtschaftskrise“. Wir sind verwirrt. Fürchten wir nun den Alptraum, die Paranoia? Es wird uns auf einmal klar, dass der Mythos unseres eigenen Zeitalters ja noch gar nicht geschrieben ist. Werden wir uns eines Tages darin wiederfinden? Werden wir ihn verstehen? Wie wird sich denn unsere Wahrheit ereignen? Wir erschauern.

Man einigt sich auf eine Schale Tee. Man möchte nicht mehr albern sein. Grüner Tee wird gereicht. Es ist ein wunderbarer japanischer Sencha mit leicht nach Heu duftender Blume, buttrig-fruchtigen Noten und sanft bitterem Abgang. Wir atmen auf. Die Wirkung des Haschisch wird in neue Bahnen gelenkt: Auf Übermut folgen Aufmerksamkeit, Wachheit, Klarheit. Blitzschnelle Gedanken beflügeln uns plötzlich, und die Sätze zischen durch unseren Kreis wie Pfeile eines japanischen Bogens.

„108 Billionen Euro verbrannt!“ - (erneutes Lachen) „mindestens!“

„Du meinst die Bankenkredite, die volkswirtschaftlichen Verluste, oder was?“

„Dummkopf! Die Kunstwerke! Die Kunstwerke meine ich!“

„Welche Kunstwerke?“

„All die Kunstwerke, die in dem alten System verkauft wurden. Alles Schrott, Asche, wenn du willst.“

„Wieso Kunst? Was soll das?“

„Mensch, spiel doch nicht den Trottel! Ernsthaft – 108! - 108 Leidenschaften, von denen uns nur Fudo Myo-o befreien kann... mit Feuer und Schwert... nie gehört? Auch egal.“

„Seit wann bist Du Buddhist?“

„Immer, wenn ich grünen Tee trinke, Kretin!“

„Und warum dann 108 Billionen?“

„vielleicht auch noch mehr zum Kuckuck - ich mag die Zahl. Ich will den Mythos zwingen – ja, meinetwegen - ist auch egal – dann sag ich eben 700 Billionen Euro. So!“

700 Billionen Euro, das wären also eintausendmal 700 Milliarden?“

„Glaub schon... oder auch siebenhundertmillionenmal eine Million.“

„Und, was ist jetzt damit?“

„Na, verbrannt eben, futsch!“

„Warum?“

„Ich dachte es halt gerade so... Kunst aus ’ner kaputten Epoche eben. Over! Radikal. Ach, ich weiß doch auch nicht. Du hast Recht – vielleicht. Für ’nen Makart kriegt man ja heute immer noch ’ne schöne Stange Geld...

Danach schweigen wir eine Weile. Einige versuchen zu rechnen.

„Was kostet eigentlich ein Richter – so im Schnitt?“

„Ja, und so ein Hirst, ein Serra, ein Koons?“

„Und so ein Baselitz, ein Nauman, ein Kiefer, eine Sherman, eine Trockel, ein Eliasson, ein Weiner, ein Wei Wei, ein Ruff, ein Tillmanns, ein Pupswindel? Du meine Güte, jetzt hör auf! Ist doch egal, es sind genug, da kommt was zusammen, das kannst du mir glauben. Meine Zahl ist Mythos, glaub’s mir, das kommt schon hin.“

„Mensch, klar! Alles, alles echte Kohle, echte Summen, echt irgendwo bezahlt, und finanziert.“

„Ja sicher, und darüber dann wieder andere Dinger finanziert, Grundstücke, Immobilien, Luxusyachten, Privatjets... verstehst du?“

„Wow!“
„Glaubt ihr, es könnte Krieg geben?“

Es ist ein Traum, den wir gemeinsam träumen in diesen Stunden. Wir sind uns nicht einig, nicht in allem. Doch irgendwie ist allen klar, dass er uns nicht wirklich behagt, dieser Traum der Erneuerung. Wir wechseln zum Whiskey. Zuletzt fragt einer: “Wer ist eigentlich die tote Geliebte?“ Wir schweigen.

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